Daniel dümpelt in der Küche herum. Nur eine Tasse Earl Gray leistet ihm stillschweigend Gesellschaft. Der wohlriechende Duft steigt empor und geht flüchtig auf Erkundungsreise, um nie wieder zurückzukehren. Nur manchmal, wenn man empfindlich genug ist, entdeckt man feinste Nuancen in der Gardine. Ein wahres Geschichtsbuch der Gerüche. Denn die Stücken Stoff, gehalten durch eine gespannte Wäscheleine, zwischen zwei Heizungsrohren, hingen schon bevor er dieses Reich hier bezog.
Er hat bereits die fünfte Partie Solitaire begonnen. Anfangs eher lieblos, mittlerweile aber Feuer und Flamme. Dieses Spiel kann einem echt den Verstand rauben, wenn man nicht aufpasst, wenn man sich fragt, gegen wen man denn eigentlich spielt? Gegen die Zeit, die man versucht totzuschlagen, oder gegen das Spiel? Vielleicht spielt man auch gegen sich selbst, weil man sich einfach austrickst.
Wie eine Maschine vollzieht er unvermeidlich ein und die selbe Bewegung. Er nimmt ein Stäbchen, überspringt damit ein Anderes und ersetzt das Übersprungene durch Nichts. Und das Nichts breitet sich mit jedem Zug aus. Das Nichts ist das erklärte Ziel. Das ist alles.
Er hat den Bogen raus. Durch Versuch und Irrtum. Sein Kumpel Alex hat ihn mal wegen seines alten Solitairespiels geringschätzig belächelt. Es sei zu unmodern. Heutzutage müsse man mit der Zeit gehen und Solitaire am Computer spielen. Er war der Meinung, dass dies unglaublich modern wäre.
„Modern“, dieses Wort geistert durch alle Windungen von Daniels Kopf und treibt Schabernack mit seinem Verstand. Auch in den hintersten Ecken, wo er glaubte, sie seien unerkundbar. Modern sein ist schon so `ne Sache. Wird man doch immer von dem Gefühl des „nie genug“ begleitet. Wie modern kann man sein, wenn man nur hinterher hinkt. Die Gefahr des Stolperns ist da äußerst groß.
Alles Bullshit, denkt er. Vielleicht bin ich nicht modern, aber dafür authentisch und er nimmt einen großen Schluck von seinem Earl Gray, um kurz darauf alles zu verfluchen. Den Wasserkocher, den Becher und seine Hand. Aber sehr authentisch dieser Schmerz, wenn er sich von der Zunge aus, im ganzen Mund ausbreitet und den Hals hinunter läuft.
„Zur Hölle damit“. Er schiebt das Brettspiel bei Seite und schnappt sich einen Bleistift aus dem Becher auf dem Kühlschrank, um hastig ein paar seelenlose Fratzen auf den hellen Holztisch zu kritzeln. Eher lieblos und dabei bleibt es auch.
Der Tisch gleicht einer kleinen Galerie. Von allen Ecken und Kanten springen einem die Zeichnungen ins Auge, die sich, mit der Zeit, zu kleinen Inseln auf der Holzplatte angeordnet haben.
Daniel hört, wie der Schlüssel ins Schloss plumpst. Kurz darauf springt die Tür auf und Lisa stolpert in die Küche.
„Hallo, bin wieder da!“ Daniel schaut auf, so früh hat er nicht mit ihr gerechnet. Was solls, eigentlich ist er froh darüber.
„Sach´ mal, saust du schon wieder den Tisch voll?“ Daniel antwortet nicht, sondern schraffiert weiter. Lisa stellt zwei Biere vor Daniels Nase auf den Tisch und den Rest in den Kühlschrank. Dann bugsiert sie Weißbrot in den Toaster und setzt sich Daniel gegenüber. Sie öffnet das mitgebrachte Bier und schiebt ein zu Daniel herüber.
„Man, du glaubst gar nicht was heute alles los war. Ich hab´ mich aber nicht aus der Ruhe bringen lassen. Du weißt ja, wenn ich unruhig werde, mache ich Fehler und Fehler kann ich mir nicht leisten.“ Daniel nickte.
„Aber, ich wollte dir eigentlich was ganz anderes erzählen. Irgendwann, als ich doch mal ´ne Minute Luft hatte, bin ich auf diese Seite mit der Internetauktion gegangen. Du weißt ja, das mache ich ganz gern. Und jetzt halt´ dich fest, da bietet doch jemand tatsächlich einen einundsechziger Chadonnay an. Im Anzeigetext stand, es sei der beste französische Jahrgang des letzten Jahrhunderts gewesen. Und jetzt rate mal, wie hoch der Preis ist? „Neunhundertfünzig“, spricht Lisa weiter, ohne eine Antwort von Daniel abzuwarten.
„Ich war drauf und dran mitzubieten. Man ist ja nur einen Mausklick davon entfernt. Es juckte mir ganz schön in den Fingern. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was das manchmal für eine Folter ist.“
„Das können wir uns aber auch nicht leisten“, schiebt Daniel ein.
„Ja sicher, Fehler und teuren Wein. Einfach unbezahlbar. Aber wenn wir den Wein trinken würden, wüssten wir vielleicht, was wir uns leisten können. In Wein steckt ja bekanntlich Wahrheit.“
„Bei dem stolzen Preis, muss aber ´ne Menge Wahrheit stecken.“
„Klar, die Wahrheit von 1961. Welche immer das auch gewesen ist.“
„Verdammt, der Toaster hat schon wieder einen Wackelkontakt. Ich glaube das Mistding macht es nicht mehr lange.“ Lisa hämmert gegen das Metallgehäuse und drückt erneut die Taste, sodass die trockenen Brotscheiben verschwinden.
„Mal angenommen du wärst so verrückt gewesen und hättest doch die Flasche Wein ersteigert, wann würdest du sie trinken? Ich mein, bei so was muss man den Zeitpunkt gut wählen.“
„Da hast du recht. Ich glaube, kurz bevor ich abnippel. Weißt du, ich glaube, wenn man so einen edlen Wein getrunken hat, kann danach einfach nichts besseres mehr im Leben kommen.“
„Aber woher willst du wissen, wann du sterben wirst. Stell dir vor du wirst morgen von einem Auto überfahren. Oder noch viel schlimmer, du stirbst, gefesselt an deinem Bett. Viel zu alt und schwach um noch ein gefülltes Weinglas zu halten.“
„Na, dann würde ich den Wein trinken und mich kurz danach erschießen. Bam! Einfach so, sauber durch den Kopf.“ Dabei formt Lisa mit ihrer rechten Hand eine Pistole und hält sie sich in den geöffneten Mund. „Dann hab´ ich das Ende in der Hand.“
„Ich weiß nicht so recht wie ich das finden soll. Stell dir vor, ich finde dich hier in der Küche auf dem Boden und ohne Gesicht. Ich wüsste dann nicht mal, wohin ich dich küssen sollte. Und nach ´ner Weile wäre ich wahrscheinlich ziemlich sauer auf dich, weil du die ganze Küche eingesaut hast und ich es wieder wegmachen darf. So ´n Kopfschuss ist nämlich alles andere als ´ne saubere Sache.“
„Hmmm, du würdest mich noch küssen wollen, wenn ich tot bin?“
„Klar.“
„Na ja, ich könnte dich aber auch überreden mitzumachen. Dann entgehst du wenigstens der Putzarbeit.“
Daniel und Lisa schweigen eine Weile. Sie kippen beide einen Schluck Bier ihre Kehlen herunter und denken im Stillen an den nächsten Tag, geprägt von Bleistiften und Computern, Büro und zu Hause, stillen Gedanken und Mitmenschen.
„Was meinst du Lisa, findest du mich unmodern?“
„Wie meinst du das?“
„Na, sollte ich vielleicht einfach mehr mit der Zeit gehen? So ganz allgemein?“
„Ach red´ kein Quatsch. Du bist doch modern. Ich mein, du lebst doch. Das ist verdammt noch mal modern genug.“
Das Brot springt aus dem Toaster hoch und macht sich mit einem Klappern bemerkbar.
Es gibt nichts besseres. Getoastetes Weißbrot und man fühlt, wie das leben in einem selbst durchsickert. Ganz einfach und doch so kompliziert. Denn das Leben kostet in diesem Fall neununddreißig Cent und das Toastbrot einen ganzen Abend.
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Klecksographie macht süchtig. das ist das einzige Verrückte daran.