Schon eigenartig, wie die Blüten sich im Regen wälzen und ihr Duft durch die Straßen treibt. Alles erscheint so grau; die tiefhängenden Wolken vertreiben die Schönheit der einst so strahlenden Blüten. Nebel umdichtet die roten Tulpen, lässt sie verschwinden und es bleibt nur Kälte und Trauer. Das Zwitschern der Vögel begleitet das leise Trommeln des Regens und die Autos sind hörbar in naher Entfernung. Ein Tag wie jeder andere, der heutige. In einer Großstadt sind die Regentage noch viel düsterer als auf dem Land. Die Menschen fallen in tiefste Melancholie. Und trotzdem wird der Tag beginnen. Man steigt in die U-Bahn, begegnet nur unbekannten Gesichtern, ernsten Gesichtern, kein Lächeln an diesem Regentag. Man steigt aus und geht seinen Weg zur Universität, begegnet weiteren unbekannten Gesichtern, weiteren ernsten Gesichtern, noch immer kein Lächeln. Man betritt die Universität, begegnet hie und da einem ehemaligen Professor, Studenten, Kollegen, nur müde und leere Gesichter. Man betritt die Aula, lauscht selbst müde und gedämpft der wohlbekannten Stimme und verlässt das Gebäude nach etwa zwei Stunden wieder. Ein Tag wie jeder andere, der heutige, nur trauriger.
Man betritt die Straße und eilt zur U-Bahnstation. Man achtet nicht auf andere Menschen, nur auf sich selbst, man befindet sich schließlich in einer Großstadt, wen kümmern da die anderen. Und irgendwann auf dem Weg zur Station erblickt man einen reglosen Körper auf dem Boden, dicht gedrängt an die Haustüre, mit Decken bezogen, auf Kartons liegend. Man will vorbei gehen, doch irgendetwas sucht es zu verhindern. Ist es das zu gut bekannte Gewissen, die Mitschuld oder gar Schuld, das Mitleid oder die Scham?
Der Verstand sagt, zieh weiter, wen kümmern die anderen? Zieh weiter und achte nicht darauf, doch das Gewissen bleibt stehen und betrachtet diesen leblosen Körper und plötzlich haben sich die Hände selbstständig gemacht und tasten an der Decke, heben sie und der Körper zuckt zusammen. Erschrocken springt man zurück, mit dem hatte man nicht gerechnet. Wer war wohl mehr erschrocken? Keine Ahnung. Die Hände dieses Körpers greifen nach der Decke und dessen Stimme brummt vor sich hin.
Nun ist es beschlossen, man will weitergehen, was dachte man sich nur dabei. Der Fuß macht schon einen Schritt und da, ja da spricht diese Stimme: „Was willst du?“
Man weiß nicht was antworten, jetzt wäre der richtige Zeitpunkt zu gehen. Doch dann, spricht die eigene Stimme, man hat keine Kontrolle mehr über seinen Körper: „Sehen, ob Sie noch leben oder Hilfe benötigen.“
„Ha, warum denn auch? Wäre doch jedem egal, ob ich hier verrecke, zwischen all den Leuten, zwischen all diesen egoistischen Menschen, die sich einen Dreck um mich scheren, warum solltest ausgerechnet du dir die Mühe machen und „sehen ob ich Hilfe benötige“. Pah! Dass ich nicht lache, weißt du was du von mir wolltest, du wolltest die Decke heben, in der Hoffnung, dass ich tot sei, die Polizei rufen und als gute Samariterin dastehen. Ja, das wolltest du und wenn ich hier gesessen wäre mit einem Becher, dann wärst du vorbei gekommen, wärst einen Augenblick stehen geblieben, hättest mir vielleicht fünfzig Cent zugeworfen und wärst frohen Gewissens weiter gelaufen und hättest allen erzählt, wie gut du doch bist.“
Und dann findet man keinen Ton mehr, denn eigentlich hat er die Wahrheit gesagt. Eigentlich war man doch so. Eigentlich ist man doch nur selbst ein egoistischer Mensch, der alles hat, sein Geld beim Fenster rauswirft, am Tag lieber fünf Tafeln Schokolade verputzt, als nur einmal das Geld jemanden zu geben, der es nötiger hat, der nichts besitzt, außer seiner Decke und ein paar Kartons. Man findet keine Worte, so sehr man sich bemüht, doch trotzdem bewegt man sich nicht vom Fleck. Man bleibt stehen und sein Gesicht kommt noch immer nicht zu Vorschein.
Und dann läuft man los, man läuft und läuft und vergisst, dass man eigentlich mit der U-Bahn fahren wollte. Und irgendwann ist man zu Hause. Denn jeder Lauf nimmt irgendwann sein Ende. Man läuft noch die Treppen hoch und schließt seine Türe auf, wirft sich auf das Bett und beginnt zu weinen. Man weint, weil man endlich eingesehen hat, wie man wirklich ist, man weint, weil der Rest der Welt auch nicht viel besser ist, als man selbst, mein weint aus Schuld, aus Mitleid, aber vor allem, weil man ein schlechtes Gewissen hat.
Man versucht zwar Ausreden zu finden, man habe doch selbst nicht so viel Geld, schließlich sei man Student, man sei doch auch nur ein durchschnittlicher Mensch. Man habe zwar vieles, eine relativ große Wohnung, sein Studium, einen vollen Kühlschrank, ein ein Meter vierzig breites Bett für sich alleine. Man kann nicht klagen, aber man habe auch selbst finanzielle Schwierigkeiten, das Leben ist teuer geworden. Aber wieder nagt es im Hinterkopf, dass es Menschen gibt, die gar nichts haben.
Man hört schließlich auf, man denkt nicht mehr darüber nach. Aber man geht in ein Geschäft, kauft Unmengen von Zeug, Brot und Früchte und Kekse und Säfte und Bier und Zigaretten und Wurst und wieder Brot und noch mehr Zigaretten und noch mehr Alkohol und eine Decke, und Socken und Unterhosen und einen Pullover und eine Hose. Irgendwann sind es zwei bis drei Einkaufstaschen, ziemlich schwer. Man geht den Weg zurück, glaubt schon lange vorbeigelaufen zu sein, geht dennoch weiter, aber irgendwie war man wirklich schon an jener Stelle vorbeigelaufen. Und irgendwie ist dieser Mann verschwunden.